Räuber Lippold

Etwa eine Stunde westlich von Alfeld, bei dem Dorfe Brunkensen, liegt die Lippoldshöhle. Sie besteht aus mehreren Räumen, deren einer die Küche genannt wird, ein anderer heißt der Pferdestall. Eine Spalte im Felsen nennt man den Schornstein. In dieser Höhle hauste vorzeiten der Räuber Lippold. Damit man ihm nicht so leicht nachspüren konnte, schlug er seinem Pferde die Hufeisen verkehrt unter. Auf allen Wegen, die vorbeiführten, hatte er Drahtzüge angebracht, die mit einen Glöckchen in der Höhle in Verbindung standen. Ging nun einer vorüber und stieß mit dem Fuß an den Draht, so klingelte alsbald das Glöckchen. Dann kam Lippold aus seienr Höhle hervor, schoß den Menschen nieder und beraubte ihn.
Einst überfiel er ein Brautpaar aus Alfeld, das am Hochzeitstage auf dem nahegelegenen Weinberge lustwandelte und sich dabei zu weit von der übrigen Hochzeitsgesellschaft entfernt hatte. Den Bräutigam, einen Schmied, warf er nieder, band ihn und ließ ihn auf der Erde liegen. Die Braut aber, eine Tocher des Alfelder Bürgermeisters, ward von dem Räuber in seine Höhle gebracht, und niemand wußte, wo sie geblieben war. Lippold zwang die Jungfrau, ihm zu dienen wie die niedrigste Magd. Wenn er ausritt, band er sie in der Höhle fest. Kam er von seinen Raubzügen nach Hause, so legte er den Kopf in ihren Schoß, und sie mußte ihm so lange das Haar kraulen, bis er einschlief. So schnarchte er täglich in ihrem Schoße auch seinen Rausch aus; denn er war dem Trunke ergeben. Lange Jahre verbrachte sie so bei dem Räuber in Kummer und Elend. Die Kinder, die sie ihm gebar, knüpfte der Wüterich bald nach der Geburt in der Nähe des Felsens auf, und wenn ihre Gebeine im Winde klapperten, dann spottete er: "Hör einmal, wie unsere Kinder singen!"
Eines Tages erkrankte Lippold und vermeinte, sterben zu müssen. Vor dem Tode aber fürchtete er sich. Daher entschloß er sich auch, seine von ihm geraubte Frau nach Alfeld zur Apotheke zu schicken, damit sie ihm ein Heilmittel hole. Doch zuvor mußte sie ihm schwören, daß sie keinen Menschen ein Wörtchen von ihm sagen und noch selbigen Tages zu ihm zurückkehren werde.
Sie kam nach Alfeld und kaufte die Arznei. Es war gerade Jahrmarkt, und so begegnete sie vielen ihrer früheren Freundinnen und Bekannten; aber niemand vermutete in dieser Elendsgestalt die ehemalige Bürgermeisterstochter. Sie sah auch ihre alte Mutter am Fenster sitzen und durfte doch auch ihr sich nicht zu erkennen geben. Da setzte sie sich neben einem Prellstein an der Rathaustür nieder und weinte still für sich hin. Der Stein, der als Wahrzeichen der Stadt noch heute daliegt, sog die Tränen ein und färbte sich blau.
Das Volk umstand mitleidig die fremde Frau; aber sie gab nicht Rede und Antwort. Da kam ihr Vater die Treppe herunter und redete sie an; doch auch ihm antwortete sie nicht. Da merkte der Vater, daß sie nicht reden durfte, und er sprach zu ihr: "Unglückliches Weib, wenn etwa ein Gelübte dich bindet, so klag doch dem Stein hier deine Not!" Das tat sie denn, und verwundert horchte er auf ihre Klage. Sie fuhr weiter fort: wenn man sie befreien wolle, so möge man um die Mittagszeit zur Höhle kommen; der Räuber schlafe dann in ihrem Schoße. Sie sollten aber ein langes Seil mitbringen und durch den Schornstein hinablassen, dann könne man ihn hinaufziehen. Darauf ging sie getröstet und voll Hoffen auf ihre baldige Befreiung zurück nach der Höhle.
Als der Räuber am anderen Mittag wieder in ihrem Schoße schlief, erkletterten die Alfelder den Felsen und ließen den Strick mit einer Schlinge durch den Schornstein hinunter. Sein Weib legte sie dem Scheusal um den Hals, riß am Seil, und mit einem kräftigem Ruck zog man den Unhold nach oben. Jäh erwachend stieß er in grimmiger Wut mit den Füßen nach dem Weibe. Allein dem Seile vermochte er nicht zu entrinnen, und so ward er erdrosselt.